Minderwertigkeit und Fleiß
Lass uns mal ein kleines Gedankenexperiment durchführen.
Wenn du und ich jetzt sagen würden, wir treffen uns nächste Woche in Australien und ich dann einen Tag vor dir ankomme, bist du dann durchgefallen?
Oder bist du deshalb ein schlechterer Mensch?
Bist du weniger Wert als ich?
Höchstwahrscheinlich nicht.
Wenn wir aber mal so tun, als wären wir in der 4. Klasse und in einer Woche schreiben wir eine Klassenarbeit in Französisch und ich eine 1 bekomme und du eine 5, bist du dann durchgefallen?
Bist du deshalb ein schlechterer Mensch?
Bist du weniger Wert als ich?
Dein erwachsener Verstand würde jetzt vielleicht antworten: Ja, nein, nein.
Das Kind in dir ist jedoch konkret-logisch.
Das bedeutet, dass es mit dem Durchfallen in der Klassenarbeit gleichzeitig von sich denkt schlechter als alle anderen zu sein.
„Ich bin schlecht in Mathe, also bin ich auch weniger Wert, als meine Freunde.“ Und diese Vermutung bekommt das Kind auf seinem Zeugnis und in den Gesprächen mit seinen Lehrern und Eltern bestätigt.
Versetz dich mal zurück zu dem Tag, als deine Klassenlehrerin die korrigierten Arbeiten zurückgegeben hat und du hofftest, dass es diesmal reiche.
Du bekamst die Arbeit zurück und da stand sie. Groß und rot. Die 4-. Die 5. Die 6.
Einige deiner Mitschüler freuten sich über ihre 1, 2 oder 3 und klatschen sich ab.
„Ey Timo! Hast du auch eine 2?“, hörst du sie durch den Raum zu ihren Freunden rufen, während die Umgebungsgeräusche immer dumpfer werden und du auf deine Note starrst.
„Das gibt Ärger!“, „Ich bleibe sitzen“ oder „Ich bin so dumm!“, schwebt dir durch den Kopf. Niemand freut sich mit dir oder für dich.
Warum auch? Du hast ja schließlich eine schlechte Note bekommen und jeder weiß, was das bedeutet.
Du bekommst maximal ein halb-ehrllich gemeintes „Kopf hoch!“ oder „Halb so wild!“, während sich dein Freund wieder zum Jubeln weg dreht. Denn niemand will schließlich mit Miesepetern abhängen.
Ich denke, du kannst dich hier zeitweise wieder erkennen.
Das können wir alle.
Was passiert hier?
Dadurch, dass du damals in ein System mit andern 10jährigen gesteckt wurdest, wurde angenommen, dass du genau so reif bist, wie alle anderen 10jährigen. Nicht nur das. Es wurde behauptet, dass alle 10jährigen gleich gut in Mathe, Deutsch und Geschichte sind. Wer in dieses System passte wurde belohnt. Wer nicht passte, wurde mit schlechten Noten bestraft.
Durch diese schlechten Noten wurden zwar in erster Linie deine Leistungen bewertet, aber ein Kind, dass diese Leistungen noch nicht so gut erbringen kann, entwickelt ein Gefühl von Minderwertigkeit.
Es gewöhnt sich dran niemals mit anderen auf einer Spur zu sein und immer hinterher zu hinken.
Von bedingungsloser Liebe zu „Liebe gegen Leistung“
Vor unserer Schulzeit ist das Leben einfach. Als Kleinkind lernen wir, dass – egal was wir tun – Mama und Papa immer zu uns halten. Wir sind umgeben von Liebe und können uns in diesem Rahmen entfalten. Wir lernen erste Persönlichkeitseigenschaften, die für unser Leben wichtig sind, wie Selbstständigkeit, Willenskraft, Vertrauen und/oder Zielstrebigkeit.
Damit kamen wir in die Schule, wo wir in den ersten Jahren noch weitere soziale Fähigkeiten, wie lesen, schreiben, rechnen lernten. Dadurch fühlten wir und noch etwas bereiter für die Welt und kompetenter, wodurch das Selbstbewusstsein und die Ich-stärke wuchsen.
Wir lernten neue Freunde kennen und trafen uns zum Spielen.
Gerade im Spiel und durch das Nachahmen von Erwachsenen lernten wir mit viel Spaß neue Verhaltensweisen und wurden so noch kompetentere kleine Menschen. Gerade in dieser Zeit wuchs unser Wortschatz immens. In den großen Pausen spielten wir Fußball oder Fangen, tauschten Sammelbildchen aus oder rauften uns mit der blöden Jungs aus der Parallelklasse.
Kurzum: Wir waren kleine Menschen, die Spaß am Leben hatten und lernen wollten.
Warum gehen dann so viele Kinder so ungern in die Schule?
Als Kind wurdest du in eine Gruppe gleichaltriger gesteckt und du wurdest einem stetig wachsenden Druck ausgesetzt, dir Dinge einzuprägen und Leistung auf Knopfdruck zu bringen für Themenbereiche, die dich nicht interessierten oder dir einfach nicht lagen.
Erinnerst du dich noch, als du als Kind mal ein Gedicht auswendig lernen musstet?
Hast du da jedes einzelne Wort wirklich gefühlt? Wusstest du, was der Autor damit ausdrücken wollte?
Oder blieb dir nur die Zeile „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“, wie ein Ohrwurm im Kopf?
Und jetzt hatten wir den Salat. Du konntest dir dieses bekloppte Gedicht nicht merken, weil es überhaupt keine Begeisterung in dir ausgelöst hat. Es war langweilig und du wolltest viel lieber Fussball oder Nintendo spielen.
Und so bekamst du eine schlechte Note für das Gedicht.
Eine ziemlich demütigende und erniedrigende Sache. Wenn andere Mitschüler das schaffen und du nicht, musst du ja wohl dumm sein. Ein Gefühl von Minderwertigkeit.
Das denkt zumindest das kindliche Hirn und reagiert mit Scham.
Mit der sogenannten krankhaften Scham.
Krankhafte Scham
Wenn du einen Fehler also dich schuldig machst, kannst du diesen wieder gerade biegen oder dich dafür ENTschuldigen. Krankhafte Scham ist jedoch ein Teil von dir. Mit DIR stimmt etwas nicht, bzw. mit dir ist etwas nicht in Ordnung und daran kannst du überhaupt nichts ändern.
Du machst also nicht nur Fehler, du bist der Fehler.
Diese Scham ist der Kern eines verletzten Kindes.
Und dieses verletzte Kind tragen viele Menschen immer noch in sich.
Dieses verletzte Kind lernt Abwehrmechanismen, damit es nicht mehr diesen Schmerz fühlen muss, nicht mehr verlassen wird oder nicht abgewertet wird.
Folgen können Nice-Guy-Verhalten, übertriebener Fleiß oder auf der anderen Seite Rüpelhaftigkeit oder Faulheit und Passivität sein.
Und diese Verhaltensweisen bestimmen unsere Persönlichkeit. Sie bestimmen darüber, ob wir eine tolle Frau an unserer Seite haben oder uns nur jemanden suchen, um nicht alleine zu sein.
Sie bestimmen über Erfolg und Misserfolg. Über die Qualität unseres Freundeskreises und die Zahl auf unserem Konto. Über Selbstwert und Minderwertigkeit.
Krankhafte Scham ist die wahre Geißel der Menschheit und wir füttern sie täglich bei uns selbst oder unseren Kindern.
It takes a village to raise a child
– Afrikanisches Sprichwort
Und jetzt zu dir!
- Spürst du diese Scham immer noch in deinem Leben?
- Vergleichst du dich oft mit anderen Menschen?
- Kommst du dir minderwertig vor?
- Fühlst du dich in Gruppen unwohl?
- Bist du stolz darauf diszipliniert zu sein?
- Hältst du dich genauestens an Gesetze?
- Kritisierst du oft andere?
- Bist du Perfektionist?
- Hast du Probleme damit vor Gruppen zu sprechen?
- Schiebst du oft Dinge auf?
Hast du mindestens 4 von diesen 10 Fragen mit Ja beantwortet, sollten wir einmal telefonieren.
Schaue dir dazu folgendes vorher an: